April 2017
Bin wieder mal in Pirna, um vor Ort zu recherchieren, und heute scheint einer dieser besonderen Tage zu sein, an denen mir alles sofort glückt! Im Rathaus bekomme ich von den freundlichen Damen am Empfang ohne Probleme die Telefonnummer von Steffen Höppner, dem Mann der die alte Uhr auf dem Rathausturm wartet. Ich rufe ihn an, frage, ob er sich Zeit nehmen könnte, mir das Innenleben der Rathausuhr zu zeigen und zu erklären. Er sagt zu und schlägt vor, dass wir uns gleich in einer Stunde vor dem Rathaus treffen.
Während ich schon ein wenig vorher da bin und gespannt auf den „Herrn der Zeit“ warte, frage ich mich, ob er wohl ein bisschen aussieht wie mein Magister Heinrich Fuchs. Den lasse ich in „Die Fallstricke des Teufels“ an einer astronomischen Uhr fürs Rathaus basteln. Ich habe gelesen, dass es im 15. Jahrhundert bereits einen Vorgänger der jetzigen Kunstuhr gegeben haben soll. Wie die damalige Uhr aussah, weiß niemand mehr. Vielleicht wurde sie beim großen Rathausbrand 1485 vernichtet.
Dann kommt Steffen Höppner. Er lässt sich an der Rezeption gegen Unterschrift den Schlüssel zum Uhrenstübchen geben und führt mich hinauf in den Turm. Zuerst bin ich ein bisschen ernüchtert, denn der Wendelstein ist statt aus Sandstein aus schlichtem Beton. Auch das Uhrwerk ist längst nicht mehr das ursprüngliche aus dem 16. Jahrhundert, erzählt Höppner. Es wurde im 19. Jahrhundert erneuert.
Als ich dann jedoch davorstehe, reibe ich mir die Augen und schaue noch einmal genau hin. Nein, ich habe mich nicht getäuscht. Derjenige, der das neue Uhrwerk gebaut hat, hieß tatsächlich Fuchs!
Zuhause google ich den Mann sofort und lese bei Wikipedia und auf den Seiten des Bernburger Museums, dass Johann Ignaz Fuchs ein bedeutender Mechaniker und Uhrmacher gewesen war. Er besaß in Bernburg/Saale eine Turmuhrenfabrik. Neben großen Uhren hat er dort auch die sogenannte „Höllenmaschiene“ gebaut, die als erste Zeitzündemechanik der Welt zu trauriger Berühmtheit gelangte:
Sein amerikanische Auftraggeber, ein gewisser Keith, hatte Fuchs gegenüber behauptet, dass er einen lautlos funktionierenden Präzisionsapparat zum Einsatz an Webstühlen benötige.
Tatsächlich hat der zwilichtige Amerikaner Fuchs´ Erfindung jedoch missbraucht, um auf äußerst skrupellose Weise Versicherungsbetrug zu begehen. Er plante, den Lloyd-Dampfer „Mosel“ mit einer angeblich wertvollen Ladung mitten auf dem Ozean mit Hilfe der Zeitzündermechanik der „Höllenmaschine“ in die Luft zu jagen. Aber entweder funktionierte die Mechanik nicht exakt oder das Fass mit der Bombe fiel herunter – jedenfalls explodierte die Sprengladung bereits beim Verladen der Kisten in Bremerhaven. 81 Menschen fanden dabei 1875 den Tod, viele wurden schwer verletzt.
Steffen Höppner (der wirklich ein wenig so aussieht, wie mein Magister Fuchs in späteren Jahren aussehen könnte), erzählt mir, dass er kein gelernter Uhrmacher wäre, sondern als Feinmechaniker am geophysikalischen Institut der Bergakademie in Freiberg tätig gewesen sei. Damals in der DDR, wenn es galt, mit wenig finanziellen Mitteln geologische Expeditionen auszurüsten, habe er gelernt zu tüfteln und zu improvisieren. Diese Fähigkeiten halfen ihm beim beruflichen Neustart nach der Wende, als er so manche Turmuhr in Sachsen buchstäblich aus dem Dreck geholt und zu neuem Leben erweckt hat. Als er 65 wurde, habe er die meisten Wartungsverträge jedoch seinem Nachfolger übergeben. Nur solche, die ihm besonders ans Herz gewachsen wären, pflege er noch immer selbst. Aus der Frauenkirche in Dresden z.B. müsse man ihn schon mit den Füßen voran raustragen, sagt er schmunzelnd.
Von dem Uhrwerk, das J.I. Fuchs für Pirna gebaut hat, schwärmt Höppner regelrecht. Es sei eines der seltenen Pendeluhrwerke, das besonders genau und dabei doch verschleißarm laufe. Warum Uhrwerke dieser Art selten seien, frage ich. Das liege wohl daran, dass Qualität eben auch schon damals ihren Preis gehabt habe, meint Höppner. (Später lese ich in einem Artikel der Mitteldeutschen Zeitung von 2011, dass Fuchs 1873 auf der Pariser Weltausstellung eine Antriebskonstruktion mit „freischwingendem Pendel und konstanter Kraft“ vorgestellt hatte.) Na fein, denke ich, wenn man sich im 19.Jahrhudert in Pirna sowas leisten konnte, ist es wahrscheinlich, dass frühere Stadtväter bei ihrer ersten Rathausuhr auch nicht geknausert haben. Wenn ich meinen Magister Fuchs also eine ausgeklügelte astronomische Uhr mit Mondphasenanzeige bauen lasse, liege ich historisch gesehen wohl nicht daneben – zumal sowieso keiner was Anderes beweisen kann.
Über meinem Kopf entdecke ich eine Bodenluke. Dort oben könne man hinter die vier Zifferblätter an den Seiten des Turmes gelangen. Ob ich da mal hochsteigen könne? Klar, wenn ich mich trauen würde. Ich traue mich, und fühle mich oben zwischen hölzernen Leitern und Dachbalken, Zahnrädern, Seilen, Hebeln und jeder Menge Staub nun endgültig drei- oder vierhundert Jahre zurückversetzt. Über mir in der Laterne schlagen die Glocken drei Uhr – irgendwie ein erhebender Moment. Aber noch glücklicher fühle ich mich, als ich auf den halben Weg nach unten einen der Hebel vor mir drücken darf. Damit bewege ich doch tatsächlich die Tatze eines der Löwen aus dem Stadtwappen! Schade nur, dass ich nicht gleichzeitig unten auf dem Markt stehen und sehen kann wie der Löwe winkt…
Und weil es wirklich einer meiner Glückstage ist, darf ich anschließend von der Höhe des Rathausturms hinunter in die tiefsten Tiefen steigen – nämlich in die alte Trinkstube. Mehrere Szenen meines Romans spielen in diesem Gemäuer, das ich bisher nur durch alte Bauzeichnungen und ein paar vage Beschreibungen kenne.
Von bunten Glasfenstern war da die Rede gewesen, die ein gedämpftes Licht durch die schräg nach oben führenden Lichtschächte auf die Tische fallen ließen. Auf den Tischen standen vergoldete und mit dem Ratswappen verzierte Kannen und Becher. Mir fallen die zahlreichen Gerichtsbußen aus dem 16. Jahrhundert für das Werfen mit „Känneln“ ein. So ein Pirnsches Kännchen fasste mehr als ein bayrischer Maßkrug! Und fanden sich auf dem Tisch keine Kännchen mehr, dann warf man beim bierseeligen Streit halt mit Leuchtern.
Eine Tür mit gotischem Profil führte damals zu dem hinteren Raum, in dem die Fässer ruhten. Von der Tür kann ich nur noch den Sandsteinbogen entdecken, der wie ein Fremdkörper aus einer anderen Zeit zwischen all den ausrangierten Büromöbeln wirkt, die hier zwischengelagert werden. Dann entdecke ich im Hintergrund die Treppe, über die man die Trinkstube früher betrat und verließ.
Noch überlege ich, ob ich mir die Zeiten, da trinkfeste Ratsherren hier unten mit Geschirr warfen, tatsächlich zurückwünsche, da meint Hr. Lück, der freundliche junge Hausmeister, ich solle mir unbedingt auch die Kellergewölbe unterm Stadthaus anschauen. Natürlich folge ich der Einladung auf der Stelle und bin sofort begeistert: Mich erwartet ein Gewirr von Kellern, das sicher noch labyrinthischer wäre, gäbe es da nicht mehrere zugemauerte Durchbrüche zu den Kellern anderer Häuser. Angeblich soll früher sogar ein unterirdischer Gang vom Stadthaus zum Rathaus hinübergeführt haben.
Sofort fällt mir Bürgermeister Volkamer ein, der im 17. Jahrhundert im jetzigen Stadthaus wohnte. Kein Wunder, dass der Mann sich und seine Familie ruinierte, weil er jahrzehntelang überall in der Stadt nach verborgenen Schätzen suchte!
Die Tür auf dem Foto führt jedoch nicht in ein Kellergewölbe, sondern zu einer Kammer auf dem 3-geschossigen (!) Dachboden des Stadthauses.
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