Der Logikfehler oder wie ich über meine eigenen Fallstricke stolperte

Gepostet am 30. April 2020 | Keine Kommentare

Dieser Tage erreichte mich die Mail einer Leserin aus Wien. Sie hatte die „Fallstricke“ und die „Handschrift“ auf einen Rutsch gelesen und schrieb:

„Möglicherweise ist mir im 1. Teil etwas entgangen, aber ich verstehe leider nicht, woher Sophia und der Magister im 2. Teil wissen, dass Kunz das Buch stehlen wollte. Man hatte ihm ja die Zunge rausgeschnitten und Sophia, der Magister und der Bader rätselten doch bis zuletzt, wonach er bei seinem Einbruch gesucht haben könnte. Ich bin nun fast fertig mit den Fallstricken, und auch dieses Buch hat mir wieder super gefallen, aber diese Frage beschäftigt mich nun schon seit Seite 22 und nagt ständig im Hintergrund.“

Bevor ich ihr vernünftig antworten konnte, musste ich selbst erst einmal in beiden Büchern nachlesen.

Mir stand nämlich eine Szene vor Augen, in der Meister Arnold Sophia rät, das Buch gut zu verwahren und keinem mehr von seiner Existenz zu erzählen. Gleichzeitig fragte ich mich, an welcher Stelle diese Szene gestanden haben könnte.

Nachdem ich nicht fündig wurde, habe ich die Datei mit der letzten Fassung meines Textes vor dem Lektorat geöffnet, und siehe da – ich hatte die Szene auf Anraten meiner Lektorin gestrichen! Sie war der Meinung, die sei überflüssig, weil der Leser bereits aus dem Gespräch zwischen Kunz und Schumann wisse, was sich im Haus der Bockewirthin abgespielt hatte – womit sie auch recht hatte.

Aber dabei haben wir am Ende übersehen, dass noch ein paar erklärende Sätze irgendwo reingehört hätten. Auch wenn das wahrscheinlich nur jemandem auffällt, der beide Bücher hintereinander liest, werden wir das bei der nächsten Auflage der „Handschrift des Teufels“ nachholen.

Wer trotzdem Lust hat, die gestrichene Szene zu lesen, kann das gleich jetzt tun:

Das ursprünglich letzte Kapitel der „Fallstricke des Teufels“

Am nächsten Tag begann das Mittagsmahl unspektakulär, zumindest waren alle Mitglieder des Hauswesens rechtzeitig zu Tisch erschienen. Sophia hatte den Eindruck, dass Gertrud diesen Umstand mit einer gewissen Zufriedenheit zur Kenntnis nahm.

„Pfarrer Lauterbach hat mich heute zu sich gebeten und mir erzählt, dass jemand aus Pirna meine Bücher kaufen möchte, sogar zu einem guten Preis“, erzählte Heinrich Fuchs, der an Sophias rechter Seite saß.

Sie wusste, dass er den Superintendenten in dieser Sache um Hilfe gebeten hatte, da dieser in Dresden einige Männer kannte, die vielleicht Interesse an derartigen Werken zeigen könnten. Dass sich nun in Pirna ein Käufer gefunden hatte, überraschte sie.

„Wer ist es denn?“, fragte Meister Arnold.

„Wolf Schumann.“

Sophia vergaß, ihren Löffel mit der dicken Graupensuppe zum Mund zu führen.

„Der Stadtschreiber?“, fragte sie argwöhnisch.

Heinrich warf ihr einen beinah flehentlichen Blick zu. „Ja, ich weiß. Ich kann den Schleimer genauso wenig leiden, wie Ihr. Aber er hat mehr Geld dafür geboten, als ich gehofft hatte.“

Sophia aß noch einen Löffel Suppe. Dann zuckte sie mit den Schultern. „Was soll´s? Nun denn, wir brauchen das Geld. Verkauft ihm die Bücher, wenn Ihr meint.“

„Das habe ich Lauterbach bereits zugesichert. Alles andere wäre unvernünftig gewesen.“

Sophia hatte eben ihren Teller geleert, als es unten an der Haustür klopfte.

„Wahrscheinlich ein Patient. Ich geh mal nachsehen.“ Jakob erhob sich, Während. Sophia Gertrud und der Magd half, den Tisch abzuräumen. Sie wollte eben die Stube mit einem Stapel Teller verlassen, als Jakob zurückkehrte, Maria auf den Fersen.

Der Badergehilfe hatte einen Brief mitgebracht. „Das werdet Ihr sicher gleich lesen wollen, Sophia. Der Bote traf eben gemeinsam mit Eurer Freundin ein. Es ist ein Brief der Bockewirthin“, sagte er.

Sofort herrschte Stille im Raum. Alle schauten auf Sophia, die langsam nach dem Brief griff. Seit dem Tod von Jonas Bockewirth hatte sie nichts mehr von ihrer Patin gehört. Sie nahm den Brief mit einem kurzen Zögern entgegen. Was Magdalena Bockewirth ihr zu schreiben hatte, würde sicher nicht erfreulich sein, und es würde vermutlich an Erinnerungen rühren, die Sophia lieber vergessen hätte. Zuerst wollte sie mit dem Brief in ihre Kammer hinauf gehen, um ihn dort allein zu lesen.

Doch dann sah sie in die Runde. Die Gesichter ihrer Freunde waren voll gespannter Erwartung. In Heinrichs dunklen Augen erkannte sie Sorge. Von allen hier wusste er am besten, wie sie unter den unerklärlichen Ereignissen um die der beiden Toten, die in der Stadt als Selbstmörder abgetan worden waren, gelitten hatte.

Marten sprach als erster aus, was wahrscheinlich alle dachten: „Nun mach schon auf! Vielleicht hat sie sich endlich entschlossen, dir zu erzählen, weshalb Kunz, der verfluchte Mordbrenner, damals ihr Haus beobachtet hat.“

Sie und Maria hatten ihm in den letzten Wochen manches über ihre Nachforschungen und Vermutungen zum Tod von Hewptmann und Bockewirth erzählt. Genau wie Meister Arnold und der Magister war er der Meinung, dass die Begründung des Gerichts im Urteil gegen Kunz viele Unklarheiten aufwies und dass mehr hinter der Sache stecken müsste.

Sophia setzte sich wieder an den Tisch, erbrach das Siegel und entfaltete mehrere Bögen dickes Papier. Maria nahm neben Marten Platz. Der Bader lehnte an der Fensterbank und hatte die langen Beine übereinandergeschlagen, Jakob gesellte sich zu ihm. Der Magister schloss die Tür und setzte sich auf seinen Stuhl neben Sophia, die inzwischen die ersten Zeilen überflogen hatte.

„Sie lag im Sterben, als sie ihrer Schwester diesen Brief diktiert hat. Kurz vorher zuvor hat sie offenbar erfahren, was sich seit ihrer Flucht aus Pirna ereignet hat, und. Sie machte sich große Vorwürfe gemacht. Ich sollte euch den Brief am besten vorlesen, aber …“ Die Schrift vor ihren Augen begann zu verschwimmen, und sie ließ das Papier sinken.

Der Magister streckte seine Hand aus. „Wenn Ihr es erlaubt, kann ich das für Euch tun.“

Als sie nickte, nahm er die Blätter aus ihren Händen, strich sie umständlich glatt und begann zu lesen:

„Meiner geliebten Patentochter, Sophia Weynerin zu Pirna

Gnade und Friede in Christo! Liebste Sophia, jetzt, da ich fühle, dass es mit mir zu Ende geht und ich bald vor meinen Schöpfer treten muss, will ich dir endlich die große Schuld beichten, die ich durch mein Schweigen auf mich geladen habe. Die furchtbaren Nachrichten über den Tod des armen jungen Malers, der bei euch wohnte, und den Brand im Hause deines Vaters zwingen mich überdies dazu, dir endlich alles aufzudecken, was ich weiß. Heute bin ich sicher, dass all das nicht geschehen wäre, wenn ich dir schon damals Antwort auf deine Fragen gegeben hätte, als du den teuflischen Landsknecht auf der Straße entdecktest. Aber ich hatte an diesem Tag so große Angst, dass ich kaum noch bei Sinnen war.

Doch nun will ich der Reihe nach berichten, was geschah. Kurze Zeit, nachdem mein Gatte zu seiner Reise aufgebrochen war, kam eines Nachmittags dieser Mann in mein Haus. Er musste sich, vom Gesinde unbemerkt, eingeschlichen haben. Als ich um Hilfe rufen wollte, zog er ein Messer und drohte, mich auf der Stelle zu töten. Er sagte, er habe Kenntnis davon, dass mein Gemahl sich vor fast zwanzig Jahren am Raub von Klosterschätzen beteiligt habe, die in einem Weinberg verborgen lagen. Er kenne auch die Namen von zwei seiner Komplizen und wisse, welchen Anteil sie an der Beute erhalten hätten. Indem er mir das Messer härter an die Kehle presste, verlangte er zu wissen, was in der Kiste gewesen sei, die mein Ehemann mit sich genommen hätte und wer der vierte im Bunde gewesen wäre. Die beiden anderen, meinen Bruder und den Tischler Andres könne er ja nicht mehr fragen. Und dabei lachte er so teuflisch, dass mich schwärzestes Grauen erfasste.

Trotzdem gab ich mich zunächst erstaunt, bestritt, jemals etwas über einen solchen Raub erfahren zu haben. Ja, ich bezweifelte sogar, dass auch nur ein Gran Wahrheit daran sei, dass mein Gemahl an einem solchen Frevel teilgehabt haben könne.

Nun ist es allerdings so gewesen, dass ich sehr wohl darüber Bescheid wusste. Die Geschichte hatte sich in unseren ersten Ehejahren ereignet. Damals hatte unser Fuhrgeschäft nur ein bescheidenes Ausmaß. Doch auf einmal kaufte mein Jonas ein neues Gespann und den Gasthof auf der Breiten Gasse. Natürlich habe ich mich gewundert und gefragt, woher das Geld dafür kam. Ich bin dann so lange in ihn gedrungen, bis er mir gestand, was er und seine Freunde im Weinberg des Klosters getan hatten. Mir war bewusst, dass es unrechtes Gut war, das ja bekanntlich selten gut gedeiht. Aber was sollte ich tun? Das kostbare Kirchengerät in der Holzkiste, die mein Gatte durch das Los erhalten hatte, war längst zu Silber gemacht und auch dies inzwischen ausgegeben. Jonas tröstete mich damit, dass die Papisten im Kloster ohnehin kein Anrecht darauf hätten und dass es so schließlich dem florierenden Geschäftsleben der Stadt zugutekäme. Ich ließ mich beschwatzen und vergaß die Sache schließlich fast. Bis zu jener entsetzlichen Stunde.

Mein Peiniger musste es wohl in meinen Augen gelesen haben, dass ich log. Jedenfalls drohte er damit, mich zu schänden und zu verstümmeln, wenn ich nicht endlich die Wahrheit bekennen würde. Ich war mir sicher, er würde seine Drohungen wahr machen, und so verriet ich ihm, was er wissen wollte.

Mein geliebtes Patenkind, ich weiß, dass das, was nun folgt, für dich besonders schmerzlich sein muss. Doch inzwischen bin ich zu der Ansicht gekommen, dass du die ganze Wahrheit kennen musst.“

Fuchs stutzte, überflog die nächsten Sätze und ließ den Brief sinken. Er sah Sophia an. „Was sie nun schreibt, könnte Euch womöglich unangenehm sein. Soll ich wirklich weiterlesen?“, vergewisserte er sich.

Sophia nickte. „Alle hier haben mein vollkommenes Vertrauen. Sie haben mir in dieser schweren Zeit beigestanden, und jetzt sollen sie auch erfahren, um was es eigentlich ging.“

„Wie Ihr wünscht. Hört also, was die Bockewirthin weiterschreibt:

Der vierte Mann, dessen Namen dieser schreckliche Mann wissen wollte, war dein Vater, mein Kind. Ich weiß zwar nicht mit Sicherheit, was in der Kiste war, die dein Vater als seinen Anteil erhielt, aber dieser Mann fragte immer wieder nach einem Buch. Wenn dein Vater es hatte, so wird es wohl in Eurem Haus verbrannt sein. Ich vermute, das war es, was der Mann bei euch gesucht hat, bevor das unglückselige Feuer ausbrach.“

Der Magister blickte zweifelnd auf. „Das Buch soll er gesucht haben?“

„Ganz bestimmt nicht“, pflichtete ihm Maria bei. „Der Kerl konnte kaum den eigenen Namen schreiben, geschweige denn Lesen.“

„Nun, darüber können wir später noch sprechen“, warf Meister Arnold ein. „Lasst uns lieber hören, welchen Verlauf die Dinge dann nahmen.“

Der Magister nickte und nahm den Brief wieder auf. „Bevor mein Peiniger mich an diesem Tag verließ, drohte er noch, sollte ich auch nur einer Menschenseele ein Sterbenswörtchen von seinem Besuch verraten, käme er zurück, um mir all das an mir zu tun, was er bereits angekündigt habe. In den nächsten Tagen wurde ich vor Angst und Seelenqual beinah wahnsinnig, sodass mich schließlich ein heftiges Fieber niederwarf. Als du mich besuchtest und erzähltest, dass dein Vater nach Ungarn aufgebrochen war, hoffte ich, einen Aufschub erhalten zu haben. Ich redete mir ein, so lang dein Vater weg war, könne der Kerl nichts unternehmen.“

„Was für ein törichtes Weibsbild deine Patin nur ist!“ Maria war aufgesprungen. Ihre grünen Augen schienen Funken zu sprühen, so zornig war sie. „Sie hat dich in Gefahr gebracht und dann nicht einmal den Mut gehabt, dich rechtzeitig zu warnen!“

Marten griff nach ihrem Arm und zog sie auf den Stuhl zurück. „Beruhige dich! Du kannst nichts mehr daran ändern. Lass uns lieber hören, was sie noch schreibt.“

Der Magister fuhr fort: „Dann kam der Tag, an dem mein Jonas endlich heimkehrte. Gleich nach dem Willkommensmahl berichtete ich ihm von dem schrecklichen Ereignis und zeigte ihm den Mann, der, wie ich durch dich wusste, noch immer in der Nähe unseres Hauses herumlungerte. So ging er spät abends noch einmal hinaus, um ihn zu stellen. Was ich nicht wusste, war, dass er der Köchin befohlen hatte, mir etwas von dem Beruhigungstrank des Baders in meinen Wein zu mischen. So schlief ich in jener Nacht tief und fest, während er mit diesem Satan um sein Leben kämpfte, denn nicht anders kann es gewesen sein. Nie und nimmer glaube ich, dass Jonas sich selbst erhängt hätte. Übrigens sind mir in dieser Gewissheit inzwischen auch Zweifel am Selbstmord meines armen Bruders Anton gekommen. Ich schäme mich zutiefst, dass ich den Spruch des Richtherrn damals einfach so als Tatsache hingenommen habe.“

„Ja, aber warum hat sie denn dann man nächsten Tag den Stadtwachen nicht die Wahrheit erzählt? Was hatte sie denn noch zu verlieren?“, ereiferte sich Maria.

„Ich denke, sie wird ihre Gründe gehabt haben“, sagte Sophia leise.

Der Magister las weiter: „Noch vor dem Morgengrauen wurde ich aus meinem Tiefschlaf gerüttelt. Voller Panik erkannte sah ich, dass der abscheuliche Landsknecht vor meinem Bett standstehen. Er sagte mir, falls ich meinen Gatten vermisste, würde ich ihn in der Scheune hinterm Haus finden. Und falls es mir noch einmal einfallen sollte, über seine Besuche zu schwatzen, würde er sich an meine schöne Patentochter halten. Das, mein liebstes Kind, ist der Grund, weshalb ich es hinnahm, dass mein Jonas als Selbstmörder an der Friedhofsmauer neben meinem Bruder verscharrt wurde und ich selbst schließlich aus der Stadt floh. Nach allem, was ich inzwischen über die Geschehnisse in Pirna weiß, denke ich, das war falsch. Ich hätte mich von diesem teuflischen Mordbuben nicht einschüchtern lassen dürfen, sondern mein Vertrauen in Gott und dich setzen sollen.

Ich hoffe, liebste Sophia, du kannst mir vielleicht eines Tages vergeben, was ich in meiner Kleinmütigkeit angerichtet habe!

Deine Patin Magdalena Bockewirthin, die dich trotz allem aufrichtig liebt bis zu ihrem letzten Atemzug.“

Es war still in der Stube. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

„Ich weiß nicht, ob es etwas geändert hätte, wenn wir eher Bescheid gewusst hätten“, sagte Sophia.

„Es nützt auch nicht, darüber zu grübeln, was gewesen wäre, wenn“, bemerkte Arnold. „Nur was es mit diesem Buch auf sich hat, wüsste ich zu gern. Habt Ihr im Haus eures Vaters vielleicht einmal ein Buch gesehen, das es wert wäre, dafür zu morden?“ Er sah Sophia scharf an.

„Wir ahnen, um welches Buch es sich handeln könnte“, antwortete Fuchs an ihrer Stelle. „Allerdings würde das weitere Fragen aufwerfen.“

„Genau das meine ich.“ Der Bader nickte. „Wenn Kunz, wie uns Frau Maria versicherte, nicht einmal lesen konnte, was sollte er dann mit solch einem Buch anfangen?“

„Damit wären wir wieder bei der Frage nach dem Komplizen oder Hintermann“, sagte Fuchs düster.

„Ja, damit dürfte sich diese Theorie wohl als zutreffend erweisen.“ Der Bader stand auf und trat ans Fenster. Er blickte auf die dunkle Straße, als fürchtete er, dort könne jemand stehen und sie beobachten. Dann drehte er sich wieder um und sagte: „Ist das Buch, von dem Ihr sprecht, tatsächlich mit allem andern im Haus verbrannt?“ Er hob die Hand, als Sophia zum einer Antwort Sprechen ansetzte. „Nein, bewahrt lieber Stillschweigen! Denn falls es noch existiert, so solltet Ihr verdammt vorsichtig sein.“

Sophia sah ihren künftigen Ehemann an. Heinrich Fuchs lächelte und nickte ihr unmerklich zu. Sie wusste, dass auch er an die winzige Kammer hinter dem Küchenregal im Haus vor dem Obertor dachte.

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